Jetzt kontaktieren 040 524 717 830

Mitbestimmung des Betriebsrats bei elektronischer Arbeitszeiterfassung

Arbeitgeber in der Europäischen Union sind von den Mitgliedstaaten gesetzlich dazu anzuhalten, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen. Das ist in etwa die Quintessenz der viel diskutierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2019. Es mehren sich jedoch die Stimmen, die eine unmittelbare Verpflichtung von Arbeitgebern zur Arbeitszeiterfassung bereits jetzt als gegeben ansehen. Damit gewinnt auch die rechtliche Frage an Aktualität, wie weit die Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Umsetzung von Maßnahmen durch den Arbeitgeber reicht. Allen voran ist von erheblichem Interesse, ob der Betriebsrat kraft seiner Mitbestimmung sogar die Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung erzwingen kann.

Dieser Beitrag geht dieser Frage auf den Grund und klärt den rechtlichen Rahmen unter Einbeziehung der vorherrschenden juristischen Diskussion.

Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung?

Für diejenigen, die die wegweisende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14.05.2019 nicht mehr präsent haben, hier noch einmal die wesentlichen Inhalte:

  • Die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG verpflichtet Arbeitgeber zur Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung
  • Das System muss „objektiv“, „verlässlich“ und „zugänglich“ sein
  • Die entsprechende Verpflichtung folgt aus den Artikeln 3, 5 und 6 der Arbeitszeitrichtlinie
  • Diese Regelungen sind Ausfluss des Artikel 31 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta
  • Artikel 31 Abs. 2 der Grundrechte-Charta vermittelt jedem Beschäftigten das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten
  • Dadurch sollen gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen geschaffen werden
  • Die Arbeitszeiterfassung ist damit ein Aspekt des Gesundheitsschutzes

Da der Entscheidung des EuGH die Maßgaben der Arbeitszeitrichtlinie zugrunde liegen, kommt grundsätzlich eine unmittelbare Geltung der vom EuGH entwickelten Rechtsgrundsätze im Verhältnis zu Arbeitgebern nicht in Betracht. Richtlinien bedürfen für ihre Wirksamkeit nämlich der Umsetzung in die nationale Rechtsordnung. Daher müssen die Mitgliedstaaten geeignete Regelungen treffen, die eine entsprechende Verpflichtung der Arbeitgeber vorsehen.

Dies gilt jedenfalls dann, wenn solche Regelungen im nationalen Recht noch nicht existieren und eine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung auch nicht durch eine europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts begründet werden kann. In Deutschland kommt als Anknüpfungspunkt für eine derartige Regelung nur § 16 Abs. 2 ArbZG in Betracht.  Dieser vermag aufgrund seines engen Wortlauts einhellig aber nicht die notwendigen Auslegungsspielräume zu eröffnen.

Grundrechte-Charta begründet unmittelbare Pflicht zur Arbeitszeiterfassung

Ist damit eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung vom Tisch, so lange der Bundestag keine den rechtlichen Maßgaben genügende Anpassungen des Arbeitszeitgesetzes beschlossen hat? Mitnichten. Vielmehr mehren sich die Stimmen, die bereits heute Arbeitgeber verpflichtet sehen, ein System zur Erfassung der Arbeitszeit zu installieren. Diese Auffassung stützt sich auf § 31 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta, dessen unmittelbare Anwendbarkeit geboten sei.

Zwischenzeitlich ist zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von § 31 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta auch ein Urteil des Arbeitsgerichts Emden ergangen. In seiner Entscheidung vom 20.02.2020 hatte sich das Gericht mit der Frage zu befassen, ob der Kläger einen Anspruch auf Vergütung für vorgeblich geleistete Stunden habe. Der Kläger habe, so das Gericht, die von ihm geleisteten Stunden durch eigene Aufzeichnungen hinreichend präzisiert und sei daher seiner Darlegungslast nachgekommen. Der beklagte Arbeitgeber versuchte mit Aufzeichnungen aus einem Bautagebuch dem Vorbringen des Klägers entgegenzutreten – jedoch vergeblich.

Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Emden habe der Beklagte seiner sekundären Darlegungslast nicht genügt. Er habe nämlich keine Aufzeichnungen eines „objektiven“, „verlässlichen“ und „zugänglichen“ Arbeitszeiterfassungssystems offen gelegt. Zu dessen Einrichtung sei er nach Meinung des Gerichts nach § 31 Abs. 2 der Europäischen Grundrechte-Charta sowie vertraglich nach § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet gewesen.

Mitbestimmung des Betriebsrat bei Arbeitszeiterfassung

Arbeitgeber könnten unter dem Eindruck der Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden nun verstärkt geneigt sein, ein System zur Arbeitszeiterfassung im Unternehmen einzuführen und einzusetzen. Vorher jedoch müssten sie den Betriebsrat beteiligen, der hinsichtlich der Erfassung der Arbeitszeit gleich unter mehren Gesichtspunkten zu beteiligen ist. In der Regel dürften Arbeitgeber bei der Arbeitszeiterfassung auf technische Einrichtungen zurückgreifen, sodass an die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zu denken ist.

Durch die Einführung eines solchen Arbeitszeiterfassungssystems ist könnte auch das Ordnungsverhalten von Arbeitnehmern berührt, was die Rechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG auslösen würde. Dies ist aber stets im Einzelfall zu prüfen, da es im vorliegenden Zusammenhang eigentlich nicht um die Ordnung im Betrieb geht, sondern um den Gesundheitsschutz eines jeden einzelnen Beschäftigten.

Darüber hinaus dient die Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung, wie die Entscheidung des EuGH auch zeigt, inbesondere dem Gesundheitsschutz von Beschäftigten. Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat daher auch im Hinblick auf den Gesundheitsschutz nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG zu beteiligen. Es besteht nämlich gemäß den dargelegten Maßgaben eine objektive Verpflichtung des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung, um die Gesundheit von Beschäftigten zu schützen. Wie die Umsetzung dieser Pflicht zu erfolgen hat, ist (bisher) jedoch nicht vorgegeben, sodass dem Arbeitgeber hier ein Entscheidungsspielraum verbleibt. Demzufolge ist auch insofern Raum für die Mitbestimmung des Betriebsrats vorhanden.

Sobald der Arbeitgeber die Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems plant, hat er den Betriebsrat nach § 80 Abs. 1 und 2 BetrVG zu informieren und Unterlagen zur Verfügung zu stellen.

Initiativrecht Betriebsrat bei elektronischer Arbeitszeiterfassung

Deutlich spannender gestaltet sich die umgekehrte Konstellation: Nicht der Arbeitgeber, sondern der Betriebsrat verlangt initiativ die Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung. Ob dem Betriebsrat insofern ein Initiativrecht zusteht, wird kontrovers diskutiert. Zum Teil wird angenommen, dass ein solches Mitbestimmungsrecht im vorliegenden Kontext bereits aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG folge (so etwa RA FAArbR Dr. Johannes Schipp, Aufsatz: Mitbestimmung bei der Einführung einer technischen Arbeitszeiterfassung, ArbRB 2019, Heft 9, S. 282). Denn die Arbeitszeiterfassung diene in diesem Fall unmittelbar dem Gesundheitsschutz.

Weitergehend wird sogar befürwortet, dass dem Betriebsrat sogar ein Initiativrecht hinsichtlich der Einführung eines technischen Arbeitszeiterfassungssystems zukommen soll. Der Betriebsrat könne eine bestimmte Form der Arbeitszeiterfassung verlangen – auch die Einführung eines IT-Systems. Zu hinterfragen ist jedoch, ob dieser Ansicht das Bundesarbeitsgerichts entgegensteht. Es entspricht seiner gefestigten Rechtsprechung, dass der Betriebsrat bei der Einführung von IT-Systemen im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG als „Hüter der Persönlichkeitsrechte“ kein Initiativrecht hat. Diese Wertung des Bundesarbeitsgerichts könnten der Annahme eines Initiativrechts des Betriebsrats entgegenstehen.

Stellungnahme: Initiativrecht des Betriebsrates europarechtlich geboten

Auf der anderen Seite sind bei der Beurteilung dieser rechtlichen Frage vor allem die europarechtlichen Maßgaben zu beachten. Wie bereits dargelegt, sind Arbeitgeber zur Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung bereits jetzt verpflichtet. Ein Betriebsrat, der initiativ die Einführung eines solchen Systems verlangt, trägt zur Verwirklichung des Gesundheitsschutzes gemäß § 31 Abs. 2 Europäische Grundrecht-Charta bei.

Mit anderen Worten entspricht es dem Grundsatz des effet utile, wonach die europarechtlichen Bestimmungen soweit wie möglich im nationalen Recht zur Geltung zu bringen sind – und sei es durch die Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes, die ebenfalls Einfallstore für das europäische Recht sein können. Vor diesem Hintergrund dürfte der Betriebsrat auch bei der Arbeitszeiterfassung ein Initiativrecht haben, und zwar auch dann, wenn er die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung verlangt. Diese ist in der heutigen Zeit ohnehin die einzige praktikable Form der Zeiterfassung im Übrigen wohl die einzige Art und Weise, ein „objektives“, „verlässliches“ und „zugängliches“ System zu verankern.

Dies zugrunde gelegt, ist die gegenteilige Ansicht abzulehnen, die sich insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeits- und Gesundheitsschutz stützt (so etwa Bayreuther: Einrichtung eines Systems der Arbeitszeiterfassung, NZA 2020 Heft 1, Rn. 5.). Danach muss eine Gefährdung feststehen bzw. durch eine Gefährdungsbeurteilung ermittelt werden, bevor der Betriebsrat bei der Auswahl der erforderlichen Maßnahmen gemäß § 3 Abs. 1 Arbeitsschutzgesetz mitzubestimmen hätte. In Anlehnung an die hier vertretene Auffassung kann es aber auf eine konkrete Gefährdungslage gerade nicht ankommen, wenn die Effizienz des Europarechts – wie vorliegend – an erster Stelle gesetzt wird.